Im Gespräch mit Georges T. Roos
Jeden Tag verändert sich die Welt ein Stück mehr. Wie hat sich Ihr Denken seit Corona verändert? Es handelt sich um ein Epochenereignis, an das wir uns wohl immer erinnern werden. Bisher war persönliche Freiheit für uns selbstverständlich, ebenso, dass unser Gesundheits- und Versorgungssystem und politische Prozesse gut funktionieren. Durch Corona wurde uns schockartig bewusst, wie verletzlich unsere Zivilisation trotz all ihrem Fortschritt ist.
Noch im Februar sprachen alle über das Klima. Nun geht der Konsum zurück, man lebt gesünder, verbraucht weniger: Ist Corona ein Nachhaltigkeitsbeschleuniger? Die Stilllegung wirkt sich tatsächlich positiv auf das Klima aus. Doch dabei darf man den massiven Schaden für die Gesellschaft nicht vergessen: die vielen Konkurse, die hohe Sterberate, die Isolation usw. Darum würde ich mich davor hüten, die positiven Klimaeffekte der Corona-Krise für spätere Zeiten als Vorbild zu nehmen.
Krisen sind Veränderungsmotoren. Welche Chancen ergeben sich daraus? Schulen und Ausbildungsstätten mussten quasi über Nacht lernen, Onlineunterricht anzubieten. Das wird in Zukunft das «Blended Learning», die Kombination zwischen Präsenzunterricht und Onlineangeboten, vorantreiben. Kleine Geschäfte haben aus der Not Onlineangebote entwickelt, die sie sicher beibehalten. Auch Unternehmen, bei denen Homeoffice bisher nicht möglich war, werden das Angebot nach der Krise nicht zurücknehmen. Das wirkt sich nicht nur positiv auf die Mitarbeiterzufriedenheit aus, auch der Verkehr wird dadurch erheblich entlastet.
Wo liegen die Gefahren? Viele Folgen sind zum heutigen Zeitpunkt nicht absehbar, unter anderem die wirtschaftlichen. Einschneidend wird sein, dass vulnerable Personen wahrscheinlich noch länger unter besonderen Umständen leben müssen. Das wiederum bedeutet, dass sich der sorglose soziale Umgang quer durch die Generationen wohl so schnell nicht wieder normalisiert.
Noch nie wurden die ökonomischen Systeme so schnell so massiv durchgeschüttelt. Wo steht die Wirtschaft in zwölf Monaten? Eine seriöse Prognose ist zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig. Die Zukunftsforschung stellt in solchen Fällen verschiedene Szenarien. Was man jetzt schon sagen kann: Ist die akute Phase schnell vorbei, folgt zwar eine tiefe, aber kurze Rezession. Je länger die Krise geht, desto nachhaltiger sind die Folgen.
Wir befinden uns in der ersten globalen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Trotzdem empfinden wir es als Belastung, einige Wochen zu Hause zu bleiben. Wieso? Die Einschränkungen gehen sehr weit und erschüttern alles, was wir bisher kennen. Das führt automatisch zu einer Art Schockzustand. Doch aus der Glücksforschung weiss man: Ob etwas aushaltbar ist oder nicht, hängt damit zusammen, mit was man vergleicht. Wer nun an die Zeiten denkt, in denen alles besser war, ist schnell miserabler Stimmung. Führen wir uns aber vor Augen, dass unser medizinisches System sehr gut und der Staat in der Lage ist, notfallmässig wirtschaftliche Schäden aufzufangen, wird uns bewusst: Im Vergleich zu anderen haben wir Glück im Unglück.
Welche vergessenen Werte erleben nun eine Renaissance? Wie wichtig uns unsere Familie und Freunde sind, ist uns wieder bewusst geworden. Das wird sich nachhaltig auf unser Miteinander auswirken. Auch regt die Krise unsere Kreativität und Flexibilität an: Yogalehrerinnen geben auf Youtube Kurse aus ihrem Wohnzimmer, Firmen eröffnen Onlineshops, Nachbarschaftshilfen entstehen. Not macht erfinderisch. Das ist persönliches Krisenmanagement. Es gibt einem das Gefühl, etwas tun zu können und generiert so positive Erlebnisse, die auch in Zukunft haften bleiben.
Seit über zwanzig Jahren analysieren Sie die treibenden Kräfte des gesellschaftlichen Wandels. Gibt es ein Muster, das Sie in all den Jahren beobachtet haben? Da fallen mir zwei Dinge dazu ein. Wir Menschen denken am liebsten in gewohnten Bahnen. Es braucht sehr viel Disziplin und auch eine gehörige Portion Kreativität, das Undenkbare, weil Ungewohnte, zu denken. Gleichzeitig ‒ und das hängt wohl zusammen ‒ machen Krisen Schlagzeilen. Denn sie kommen plötzlich und entsprechend heftig. Ich vergleiche das gerne mit einem Kind, das mit Bauklötzchen einen Turm baut. Der Aufbau an sich ist kein Ereignis, doch wehe, der Turm bricht zusammen … Das zeigt sinnbildlich, wie wir mit den Entwicklungen auf der Welt umgehen: Es gibt unzählige positive Errungenschaften, doch was im kollektiven Bewusstsein haften bleibt, sind die Krisen.
Sie gelten als Zukunftsoptimist. Wie geht es uns nach Corona? Ich bezeichne mich lieber als ein Possibilist ‒ ich glaube an die Möglichkeit einer positiven Veränderung. Die Menschen sind kreativ, intelligent und anpassungs-
fähig. Diese Fähigkeiten werden uns auch bei der Bewältigung der Corona-Krise zur Verfügung stehen.
Georges T. Roos ist Gründer eines Zukunftsforschungsinstituts sowie der European Futurists Conference Lucerne; er gilt als führender Zukunftsforscher der Schweiz. Seit 1997 analysiert er die treibenden Kräfte des gesellschaftlichen Wandels. Roos ist Vater von zwei Kindern. kultinno.ch
Das Interview führte ANINA RETHER, Redaktorin WIR KAUFLEUTE.